Prolog
Loch im Kopf

In meinen Träumen laufe ich vorbei an Knochensägen und Pökelsalz, weiter, immer weiter, bis ganz nach hinten in den Hof mit der Betonrampe, von der ich letzten Sommer heruntergefallen bin. Ich hatte ein richtiges Loch im Kopf. Das frische Blut war hellrot, das getrocknete dunkelbraun. Die Wunde wurde mit acht Stichen genäht.

Im Hof zeichnet die Sonne ein goldenes Dreieck auf den Beton. In dem Dreieck steht mein Vater und raucht eine selbstgedrehte Zigarette, obwohl er auch im Laden rauchen darf. Der Laden trägt den Namen unserer Familie. Ich setze mich auf die Rampe, ziehe die Beine an und bewundere meine Knie und meinen Vater. Meine Knie sind ganz weiß. Die Haut meines Vaters ist nie weiß, und seine Locken sind ganz weich. Er trägt den grauen Firmenkittel, aber er hasst den Kittel genau so sehr wie Lohnarbeit. Meine Mutter metert unten im Keller Schweinedärme in Salzlake ab. Mein Opa sitzt im Büro auf seinem Ledersessel und schreit. Mein Opa kann nicht normal reden, der kann nur schreien. Die anderen seien faule Hunde, schreit er immer. Und dass es um die Wurst geht, was ein Witz ist und gleichzeitig die Wahrheit.

Mein Vater dreht sich um und sagt etwas zu mir, aber ich kann nicht hören, was. Als hätte jemand in meiner Erinnerung den Ton abgeschaltet. Er schnippt die Zigarette fort und breitet die Arme aus. Von der Rampe aus lasse ich mich hineinfallen. Ich bin ganz leicht. Meine Arme legen sich um seinen Hals, und ich sehe meinen Sandalen beim Schaukeln zu, während er mich davonträgt. Meine Kindheit riecht nach Wurst. Dad nach Haschisch. Seine Locken kitzeln. Dann wache ich auf.

Den Laden, die Ehe meiner Eltern, meinen Vater, das alles gibt es nicht mehr. Aber das Kind, das seinen Vater sucht, bin ich bis heute geblieben. Geblieben sind auch seine Geschichten. Von den Drogentrips. Oder wie er als Student mal in einer Tiefgarage angeschossen wurde. Es sind Geschichten von Rauschgift, Wahn, langen Reisen und kurzen Affären. Ich kenne Bilder von meinem Vater neben Affen und auf Elefanten. Ich frage mich manchmal, ob die Prostituierte, bei der er sich mit HIV infizierte, wusste, was sie ihm mitgab. Als ich ihn zum letzten Mal sah, rauchte er einen Joint durch ein Loch in seiner Wangenwand und sagte: it’s tough kid, but it’s life.

Sein letztes Buch habe ich für ihn zu Ende gelesen. 28 Seiten, kein Happy End. Nach seinem Tod habe ich sieben Jahre lang nicht über ihn gesprochen. Nur ein Mal bin ich in der Tristesse eines bald schließenden Clubs einem Fremden begegnet, und wir haben uns alles erzählt, alles. Später ging es besser, betrunken sogar ganz gut, weil betrunken für einen kurzen Moment alles besser scheint, bis man eben wieder nüchtern ist und feststellt, dass alles Rauschhafte am Ende nur einer Illusion unterliegt. Ich dachte, irgendwann würden die Träume aufhören, irgendwann würde alles verblassen wie die Schatten des Bikinis am Ende eines langen Sommers.

Der Wurstladen, die Krankenhäuser, das Morphium, das Klirren von Weinflaschen, die ganze verdammte Vergangenheit verschwimmt und verändert sich ständig in meinem Kopf, wie die Prismen in diesen Kaleidoskopen, an denen ich als Kind drehte. Eine Krankenschwester hatte mir damals erklärt, warum meine Wunde genäht werden muss. Sie sagte: Ein Loch im Kopf, das wächst nicht einfach von alleine zu.

Im großen Sekretär liegen unten rechts die leeren Notizbücher aus dem Buchladen in Williamsburg. Mein Vater ist seit zwölf Jahren tot, als ich nackt ins Wohnzimmer gehe, das blassblaue nehme und «Dad» vorne draufschreibe.
Das ist der Anfang.

«Dad» ist ein Roman über einen Hippie-Vater, aber auch eine Reise in das Deutschland der 60er, 70er, 80er, 90er und Nullerjahre, in die Maghreb-Staaten und in viele Winkel Asiens. Die Ehe der Eltern, den Vater, die Wurstwarendynastie, aus der er stammte – das alles gibt es nicht mehr. Geblieben sind Geschichten von Drogentrips. Oder wie «Dad» als Student angeschossen wurde. Von großen Abenteuern. Und dem einen, das kein happy end hat, der HIV-Infektion, die er von einer seiner Reisen mitgebracht hat. «Mein Vater ist seit zehn Jahren tot, als ich ein blassblaues Notizbuch nehme und DAD vorne drauf schreibe. Das ist der Anfang.» Dies ist eine Geschichte über Freundschaft, Liebe, Sucht und Sehnsucht und über eine junge Frau, die versucht zu verzeihen.

Foto: Tamina Florentine-Zuch

Nora Gantenbrink

Journalistin & Autorin

mail@noragantenbrink.de